film. JEAN-PIERRE LÉAUD. porträt

 

Essay über Leben und Werk des französischen Schauspielers. Erschienen im Programmheft STADTKINO BASEL aus Anlass einer Film-Retrospektive.

JEAN-PIERRE LÉAUD

SIE FILMTEN UND SIE LIEBTEN IHN

Seine Karriere begann mit einem Paukenschlag. Kein Geringerer als François Truffaut entdeckte 1959 den damals gerade 14-jährigen Jean-Pierre Léaud für sein Regiedebüt Les Quatre cents coups, machte ihn zu seinem Leinwand-Alter-Ego Antoine Doinel und zum ersten Star der Nouvelle Vague. In den sechziger und siebziger Jahren avancierte er zum Liebling des europäischen Autorenkinos und galt geradezu als Idealbesetzung, wenn es darum ging, zarte und verunsicherte Männer darzustellen. In ihm personifizierte sich eine neue Generation: Die Weigerung, erwachsen zu werden, und den Mut zum Träumen verkörperte er mit einer unvergleichlichen Mischung aus Naivität, Unbeholfenheit und Melancholie. Zwischenzeitlich fast vergessen, entdeckten ihn in den Neunzigern Regisseure wie Aki Kaurismäki und Bertrand Bonello als fragilen Helden neu. Das Stadtkino Basel widmet der cinephilen Ausnahmefigur des Autorenkinos im August und September eine Hommage und zeigt ihn in elf seiner schönsten Rollen.
 

Nie ist der Esprit einer Filmepoche so mit einem Schauspieler verknüpft worden wie die revolutionäre Nouvelle Vague des französischen Kinos mit Jean-Pierre Léaud. 1959 gelingt ihm als Jugendlichem bei François Truffaut ein fulminanter Einstieg, noch heute setzt er als der immer gleiche Andere im Kino Akzente.

 
 Der Sohn des Drehbuchautors Pierre Léaud und der Schauspielerin Jacqueline Pierreux wird im Mai 1944 in Paris geboren, kurz vor der Befreiung der Stadt von der deutschen Besatzung. Er ist intelligent, als Schüler aber unmotiviert. Aus disziplinarischen Gründen schickt man ihn auf ein Internat in Pontigny, in die Provinz. Mama meldet den Filius für Filmcastings an, mit Erfolg. 1958 steht er mit dem Star Jean Marais für Georges Lampins Historiendrama La Tour, prends garde! vor der Kamera.

 
 14-jährig schreibt Jean-Pierre an François Truffaut, der einen Hauptdarsteller sucht. «Sehr hübscher Junge, aber zu weiblich», notiert jemand auf das Bewerbungsbild, das Jean-Pierre mit längerem Haar zeigt. Aber er wird eingeladen, erscheint mit keckem Kurzhaarschnitt und verblüfft Truffaut mit seiner altklugen, aber charmanten Anmutung. Als ihm Truffaut sagt, er müsste für den Dreh der Schule fernbleiben, meint Jean-Pierre: «Was soll’s, solange ich glücklich bin!»

 
 Truffaut engagiert ihn, obwohl er für den Part des Antoine Doinel in Les Quatre cents coups etwas zu alt ist. Er passt sein autobiografisches Skript Léauds Vita an. Am Filmfestival in Cannes 1959 triumphieren der Autorenfilm und sein juveniler Star. Die Kulturikone Jean Cocteau bietet Léaud für eine Rolle in seinem Meisterwerk Le Testament d’Orphée (1960) auf. Nun will der Newcomer weder in die Schule noch ins Elternhaus zurück, und schliesslich nimmt ihn Truffaut bei sich in Paris auf. Es beginnt eine symbiotische Künstlerbeziehung: In zwanzig Jahren entstehen noch ein Kurz- und drei exzellente Langspielfilme über das Erwachsenwerden der real existierenden Kunstfigur Antoine Doinel alias Jean-Pierre Léaud.

 
 Léaud wird zur Marke JPL, die das Credo der Nouvelle Vague inkarniert – Aufrichtigkeit, Gegenwärtigkeit, Menschlichkeit in der politischen Aufbruchsstimmung der bewegten 1960er-Jahre – und die Sehnsucht des Publikums nach einer intellektuellen, doch emotional-sensiblen Identifikationsfigur befriedigt. Das machen sich auch andere Nouvelle-Vague-Exponenten zu Nutze. Der zynische Radikale Jean-Luc Godard macht JPL zum Assistenten und immer wieder auch zum Nebendarsteller, etwa in Une femme mariée (1964) und Pierrot le fou (1965). 1966 betraut ihn Godard für seinen Masculin féminin mit der Hauptrolle, JPL spielt einen militanten Vietnamkriegsgegner. Regisseur Jean-Henri Roger schwärmt: «Léaud ist der Schauspieler unserer Generation.»

 
 Zur selben Zeit will Léaud zum Theater. Bald aber bricht er den Versuch ab: «Ohne Kamera verliere ich die Orientierung. Mein einziger wahrer Partner, das grosse Andere, ist die Kamera.» So bleibt er avantgardistischen Filmautoren wie Philipp Garrel (La Concentration, 1968; La Naissance de l'amour, 1993), Jerzy Skolimowski (Le Départ, 1967) oder Glauber Rocha (Der leone have sept cabeças, 1970) erhalten. Doch nicht immer kann er die Erwartungen erfüllen. Mit dem Italiener Pier Paolo Pasolini überwirft er sich. Als dessen Drama Porcile 1969 herauskommt, fehlt die hohe, kehlige Stimme von JPL; Pasolini hat sie durch die eines Kollegen ersetzt.
 Truffaut setzt JPL auch ausserhalb seiner Doinel-Filme ein. In der Romanadaption Les Deux Anglaises et le continent (1971) über die Unmöglichkeit der Liebe sogar atypisch: «Es ist die schwierigste Rolle für dich, weil du jemanden spielen musst, der reich und gross geboren wurde.» JPL reüssiert, aber als Autodidakt fehlen ihm Routine und Lust, Charaktere zu erarbeiten. Ihm ist wohler, wenn er bald darauf in Truffauts wunderbarer Film-im-Film-Hommage La Nuit américaine (1973) wieder quasi sich selbst begegnet.

 
 Gerne spielt er Figuren aus dem vertrauten Milieu, so mehrfach Filmemacher: In Bernardo Bertoluccis UltimPornographe (2001) als Sexfilmer. Selber Regie geführt hat JLP nur einmal, für den Kurzfilm De quoi s‘agit-il? (1974).o tango a Parigi (1972) als nerviger Freund von Marlon Brandos Lustobjekt Maria Schneider; im Experimentaldrama Irma Vep von Oliver Assayas (1996) als Cineast am Rande des Kollapses und in Bertrand Bonellos Le 

 
 JPL ist unwiderstehlich – weil authentisch –, wenn er mit seinen an Grenzen stossenden Filmfiguren quasi verschmilzt. Etwa als Folge von Selbstüberschätzung in Liebesdingen, wenn er als dandyhafter Mann für Duelle mit der Magie des Ewigweiblichen suboptimal gerüstet ist. Beispielhaft in Jean Eustaches La Maman et la putain (1973), dem Leitwerk der Emanzipationsbewegung, in dem Léaud als geschwätziges Mannsbild zwischen zwei starke Frauen gerät. Oder, humoristischer, in Cathérine Breillats 36 filette (1988), wo er als Mittvierziger gegenüber einer 14-Jährigen gönnerhaft auftritt und vor allem verlegen wirkt. Solche Momente wirken improvisiert bei JPL, von dem Truffaut sagt: «Er ist ein antidokumentarischer Schauspieler. Schon wenn er nur ‹bonjour› sagt, kommt uns das vor wie Fiktion. Um nicht zu sagen: wie Sciencefiction.»

 
 Nach L’Amour en fuite (1979) bricht Truffaut die Antoine-Doinel-Reihe ab. Für JPL ist das schmerzlich «wie der Bruch einer Liebesbeziehung». Es beginnt eine Krisenzeit. 1981 begeht sein Vertrauter, Regisseur Jean Eustache, Suizid. Im Herbst 1984 stirbt François Tuffaut, der ihn «alles über Film lehrte, wie ein Vater». Und zu allem Überfluss gerät er nicht als Künstler, sondern als Citoyen in die Schlagzeilen, als er einen greisen Nachbarn attackiert und knapp einer Haftstrafe entgeht.

 
Unschöner Abgang einer lebenden Legende? Nein. 1990 blitzt das Genie des JLP in Aki Kaurismäkis Tragikomödie I Hired a Contract Killer (1990) wieder auf. Léaud wird gefeiert und wieder öfters besetzt. Zuweilen wirkt er sogar erfrischend selbstironisch. So in Visage (2009) des Taiwanesen Tsai Ming-liang: Von chaplinesker Tristesse umschmeichelt, gibt er einen gewissen Antoine (sic!), der sich von der betörenden Truffaut-Witwe Fanny Ardant (sic!) zum Clown schminken lässt – und dabei doch JPL bleibt.

 
 Zwischen dieser Szene und der Tristesse des Buben Antoine Doinel in Les Quatre cents coups liegt ein halbes Jahrhundert. Und noch stimmt, was François Truffaut als Rezept für die Zusammenarbeit mit JPL notiert hat: «Er ist am besten, wenn man ihm Spielraum lässt für eine gewisse Heldenhaftigkeit und Ehrlichkeit. Aber ohne das Eingebildete und Elitäre. Also Heldenmut und Aufrichtigkeit auch im Irrtum. Mit gutem Willen und Humor, der nicht aufgesetzt ist.»

 
Exakt so, wie in der Kleinstrolle in Kaurismäkis Le Havre (2011). JPL ist hier ein «dénonciateur», ein spiessiger Denunziant. Er packt einen illegalen Immigranten und telefoniert der Polizei. Doch der farbige Junge entwischt, und JPL steht belämmert da wie eine Katze, der die Beute wieder einmal aus dem Maul gehüpft ist. Léaudesker geht es nich.
 Michael Lang